Eine Wegbeschreibung
Morgen würde ich die Hilfsorganisation besuchen, um über ihre Begrünungsprojekte zu erzählen. Dann hätte ich bereits zwei Motive für den III Prêmio de Fotografia 2012. Alles funktionierte reibungslos. Auch die Mail mit der Wegbeschreibung erhielt ich vereinbarungsgemäß am gleichen Abend.
Kaum hatte ich jedoch die ersten Zeilen überflogen, stellten sich Zweifel an der Umsetzbarkeit meines Vorhabens ein. Nicht nur, dass ich die halbe Stadt durchqueren und in einer gänzlich unbekannten Region nach Bussen suchen müsste. Ich müsste auch eine Avenida überqueren, vor deren hohem Verkehrsaufkommen mich der Leiter der Hilfsorganisation explizit warnte. Mit Grauen erinnerte ich mich an mühsame Überquerungsversuche am Parque Ibirapuera oder der Avenida dos Bandeirantes. Doch Hadern half jetzt nicht.
Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, in was für eine Gegend ich geraten würde, denn die Organisation beschäftigt sich nicht zuletzt mit der Begrünung von Favelas. Zur besseren Vorbereitung konsultierte ich daher zusätzlich Google Maps und die Seiten von SP Trans, des städtischen Verkehrsverbandes. Doch es wurde nicht besser.
In jedem Fall müsste ich zwei bis drei Mal umsteigen und würde zwischen eineinhalb und zweieinhalb Stunden brauchen, um an das andere Ende der Megacity zu gelangen. Wenn ich am Fotowettbewerb teilnehmen wollte, hieß es jetzt „Augen zu und durch“.
Vielleicht wüssten Tereza oder Heloisa, die Sprachlehrerin, mehr über die Gegend, die ich der Zona Norte, der Nordzone, zurechnete. Tatuapé, die Metrô-Station, an der ich in den Bus wechseln sollte, sei, so erklärten beide Befragte einhellig, eine Gegend, die durchaus mit Brooklin, unserer Heimat in der Zona Sul, der Südzone, vergleichbar wäre. Ich war erleichtert und traf eine Entscheidung. Auf dem Hinweg würde ich an der Metrô-Station ein Taxi nehmen, schon um nicht auf den letzten Metern, bei der Überquerung der Avenida, von einem Auto erfasst zu werden. Auf dem Rückweg könnte ich immer noch auf die öffentlichen Verkehrsmittel zurückgreifen.
Aufbruch ins Ungewisse
Im Aufbruch erzählte ich unserer Empregada, der Haushaltshilfe, dass ich mich nun auf den Weg nach Aricanduva machen und sicher erst zurückkehren würde, wenn sie selbst bereits gegangen sei. Mit dem Wort Aricanduva versteinerte der Gesichtsausdruck der fröhlichen Frau, die genau zu wissen schien, worauf ich mich einließ. Bloß nicht nachfragen, schoss es mir in den Kopf. Auf zur Bushaltestelle!
Einmal an der Metrô angekommen, trennten mich nur noch sechs Stationen von meinem Zwischenziel Tatuapé. Als sich dort die Türen öffneten, stellte sich heraus, dass die Station über einen direkten Zugang zu einem Shopping, einem Garanten für einen Ponto, einen Taxistand, verfügte. Ich durchstreifte also bester Dinge das angenehm kühle Shopping, auf der Suche nach einem entsprechenden Hinweisschild. Vergeblich.
Schließlich umrundete ich das gesamte Shopping. Irgendwo müsste es einen Ponto geben, dachte ich, denn an ausnahmslos allen mir bekannten Shoppings hatte ich jeweils zahllose Taxis beobachtet, die Einkäufer und deren oft sperriges Gut aufnehmen. Hier war dies offensichtlich anders.
Ich bog in die größte der Straßen, auf die ich bei meiner Umrundung gestoßen war, ein. Ein Block, zwei Blocks, drei Blocks. Nichts. Jetzt wählte ich die nächste größere Straße und kämpfte mich durch die Mittagshitze. Nirgendwo ein Ponto oder auch nur ein Taxi, das ich hätte anhalten können. Ich ging weiter, bis ich nach nochmals vier oder fünf Blocks endlich einen Ponto erspähte. Ein einziges Taxi stand dort, auf das ich mich entkräftet stürzte.
Ich müsste nach Aricanduva, zu einer Straße in unmittelbarer Nähe der Avenida Rio das Pedras. Der ältere Taxifahrer schaute mich nachdenklich an, schüttelte bedauernd den Kopf und erklärte schließlich, dass er, mit Ausnahme der Avenida Aricanduva, keine der genannten Straßen kenne und auch kein Navigationssystem besitze. Eine für Brasilien eher ungewöhnlich direkt (negative) Antwort, denn nicht nur einmal habe ich erlebt, dass Taxifahrer zuversichtlich starten, um dann hilflos durch die Gegend zu irren, was bei eigener fehlender Ortskenntnis ein eher zweifelhaftes Vergnügen ist.
Während ich erwog, meinen Ausflug an dieser Stelle abzubrechen und unverrichteter Dinge zur Station zurückzukehren, trafen wie aus dem Nichts zwei weitere Taxis am Ponto ein. Geradezu erleichtert konsultierte der ältere Taxifahrer die Kollegen. „In der Straße wohne ich“, erklärte einer der beiden Neuankömmlinge und öffnete mir die Tür. Ende gut, alles gut, dachte ich dankbar.
Dann fuhren wir los, weiter, immer weiter, und ich wurde darüber informiert, dass sich unser Ziel nicht, wie angenommen, in der Nordzone, sondern in der Zone Leste, der (gefürchteten) „Ostzone“ befände. Auch gut, zumal der Taxifahrer interessante Dinge über diese Gegend zu berichten wusste. So erfuhr ich alles Wissenswerte über das Shopping Aricanduva, das größte Shopping Lateinamerikas, das wir nach einer gefühlten Ewigkeit passierten, über die wirtschaftliche und soziale Lage in diesem Bereich der Megacity, über korrupte Lokalpolitiker, nicht eingehaltene Wahlversprechen und über vor Ort aus dem Boden schießenden Sekten, bis wir schließlich nach ungefähr 30 Minuten Fahrt in die Zielstraße einbogen.
Willkommen in der Periferia
Wir hielten vor einem zweistöckigen Gebäude. Da auf den ersten Blick nichts auf die Organisation hindeutete, stieg mein fürsorglicher Taxifahrer mit aus. Wir betraten das Haus, dessen Eingangstür geöffnet war und prüften die Briefkästen, ohne Ergebnis. Ich stieg die Treppe hinauf und stieß auf zwei Gittertüren, eine davon mit der Nummer 06 versehen und klingelte. Ich würde schon erwartet, begrüßte mich ein sympathischer junger Mann, typisch brasilianisch, mit Umarmung und angedeutetem Kuss auf die Wange, während ich mich von meinem Taxifahrer-Tourguide verabschiedete.
Os esforços valeram oder „Die Mühen hatten sich gelohnt“
Schließlich traf ich auf Hans Dieter Temp, den Gründer von “Cidades sem Fome”, „Städte ohne Hunger“, einen Deutsch-Brasilianer der dritten Generation aus Rio Grande do Sul, dem südlichsten der 27 Bundesstaaten, Ausgangspunkt seines persönlichen Engagement.
Der Betriebswirt, der von 1993 bis 1996 in Tübingen zusätzlich eine Ausbildung zum Techniker für Landwirtschaft und Umweltpolitik absolviert hatte, erzählte seine Geschichte, die so spannend war, dass sie mich von der ersten Sekunde an fesselte.
„Städte ohne Hunger“, so erfuhr ich, ermögliche mittlerweile in vier einkommensschwachen Bereichen der Zona Leste São Paulos (Cidade Tiradentes, São Mateus, Itaquera, São Miguel Paulista) die soziale Eingliederung gesellschaftlicher Randgruppen durch Gartenbau und leiste einen wirksamen Beitrag gegen die vorhandene Unter- und Fehlernährung.
Die Nichtregierungsorganisation versuche gezielt, brachliegende öffentliche oder private Grundstücke nutzbar zu machen, auf denen die lokale Bevölkerung Gemüse- und Obstgärten anpflanze. So käme ein Teil dieser Menschen in Arbeit, erhielte dazu eine solide Ausbildung und könne durch den Verkauf der Ernte ein bescheidenes Einkommen erzielen. Zusätzlich werde durch das nährstoffreiche, biologisch erzeugte Gemüse- und Obstangebot die Gesundheits- und Lebensqualität erhöht. Dies sei insbesondere für die Kinder wichtig, die in diesen Stadtteilen sehr selten frische und biologische Nahrungsmittel erhielten.
Sobald die Gärten erfolgreich der Gründungsphase entwachsen seien, würden sie von den jeweiligen Akteuren kollektiv selbstverwaltet. Daraus resultiere einer der wesentlichen Projekterfolge – die Identifikation der Menschen mit ihrem Garten und dem, was sie tun.
Obwohl landwirtschaftliche Nutzfläche, leisteten die Gärten auch einen wesentlichen Beitrag zur kulturarchitektonischen Stadtentwicklung, denn in großen Teilen der Periferia und in den schnell- und wildwachsenden Favela-Siedlungen gäbe es so gut wie keine Grünflächen, Parks oder zur Erholung ausgewiesene öffentliche Freiräume. 21 Gemeinschaftsgärten gebe es inzwischen, von denen mehr als 700 Menschen direkt und an die 4.000 indirekt profitierten. 48 Kurse seien seit Entstehung des Projekts im Jahr 2004 bereits durchgeführt worden.
Doch ich sollte mir selbst ein Bild machen – und natürlich das für den Wettbewerb erforderliche Foto schießen, das mich hierher geführt habe. In einer nahegelegenen Favela könne ich die Anfänge eines Gemeinschaftsgartens sehen, später einen Garten, der seit geraumer Zeit existiere.
Wir holen den Schlüssel für den eigezäunten, in der Entstehung begriffenen Garten, der sich auf dem Gelände einer nicht mehr betriebenen Gaspipeline am Rande einer Favela befindet, bei Ivone, die für den Gemeinschaftsgarten verantwortlich zeichnet, ab. Baile Funk, eine brasilianische Form des Hip Hop, wummerte durch die engen Gassen. Sie werde gleich zu uns stoßen, erklärt die 53-jährige, die aus Borazópolis im Bundesstaat Paraná stammt.
Bis zum Aufbau des Gartens vor wenigen Monaten, so erfuhr ich, sei die Mutter dreier Kinder, die selbst im Alter von 18 Jahren nach São Paulo gekommen war, längere Zeit ohne Arbeit gewesen.
Erstaunlich, wie viel in diesem Garten bereits wächst und gedeiht, geht mir durch den Kopf. Ob es nicht gefährlich und vor allem potentiell gesundheitsgefährdend sei, Obst und Gemüse auf einer ehemaligen Pipeline anzupflanzen, will ich wissen. Nein, das sei es nicht, beruhigt mich Hans Dieter. Es werde viel Erde aufgeschüttet und man achte darauf, Pflanzenarten mit flachen Wurzeln anzubauen, erklärt er, als Ivone schließlich zu uns stößt, die sich für die Fotosession in Schale geworfen hat. Wie stolz sie auf ihren Garten ist, verströmt die sympathische Frau ebenso wie ihr Parfum.
Ich blicke um mich, suche nach dem passenden Foto-Hintergrund und entscheide mich für das Klischee: den Gemüsegarten im Vordergrund, dahinter unverputzte Favela-Häuser, auf deren Dächern die Wäsche im Wind weht. Bereits während ich fotografiere, stellt sich allerdings die Befürchtung ein, dass ich die Fotos später nicht verwerten kann, denn – so gut ich nachvollziehen kann, dass Ivone sich schön gemacht hat – der Betrachter würde sich wohl irritiert die Frage stellen, warum die strahlende, dunkelhaarige Frau ihre Gartenarbeit in einem tiefausgeschnittenen, schwarz-glitzernden Shirt, wohlfrisiert und mit frisch aufgetragenem Lippenstift erledigt.
Wir verabschiedeten uns und fuhren weiter. „Du wirst sehen - Genivaldo, der zusammen mit drei anderen Familien den Gemeinschaftsgarten in São Mateus betreibt, ist ein ganz besonderer Gärtner, der noch dazu ausgesprochen fotogen ist“, erklärte Hans Dieter, dem nicht entgangen war, dass ich, so beeindruckt ich von Ivone und ihrem Garten in der Favela gewesen war, im Hinblick auf den III Prêmio de Fotografia 2012 nicht weiter gekommen war. Hans Dieter sollte recht behalten.
Genivaldo, ein 63 jähriger Pernambucano, der bezeichnenderweise aus einem Ort mit Namen Bom Jardim (guter Garten) stammt, beindruckte mich sofort. Der schlanke, kleine Mann, der, wie ich erfuhr, stets einen weißen kurzärmeligen Kittel über seiner Hose trägt, an der ein scharfes Messer befestigt ist, lief wieselflink durch seinen Garten und sprengte. Barfuß durchquerte er den 4.400 Quadratmeter großen Gemeinschaftsgarten, vom dem er die größte Fläche bewirtschaftet.
Er möge sich nicht stören lassen, ich würde einfach nur seine Arbeit dokumentieren, erklärten wir. Es war eine solche Freude, dem Vater eines Sohnes bei seiner Arbeit zuzusehen, die er augenscheinlich aus vollem Herzen liebte. Jede einzelne Pflanze kennt der Gärtner, der neben den klassischen Obst- und Gemüsesorten auch Heilpflanzen anbaut. Wenn ich Bauchweh hätte, würden Boldoblätter helfen, wenn ich nicht schlafen könne, sollte ich es mit Melisse versuchen, die sei viel wirksamer als die Maracuja, die in Brasilien als die Substanz gegen Schlafstörungen gilt.
Der agile Mann ist ein wahres Lexikon, auch was seine Kunden betrifft. Er kennt sie alle, ihre Geschichten, Nöte und Sorgen. Die Kunden mögen ihn, das ist spürbar, sie freuen sich nicht nur über die erschwinglichen, gesunden Nahrungsmittel, sondern auch über den Austausch mit diesem in sich ruhenden, fröhlichen Mann, der auch mir nicht nur wundervolle Fotos, sondern auch spannenende Einblicke und Leckeres, in meinem Beisein geerntetes Gemüse geschenkt hat.