Der steinige Weg nach Paraty

Lange schon wollten wir nach Paraty fahren, denn bislang gerieten alle Gesprächspartner, wenn das Thema auf die kleine Küstenstadt im Bundesstaat Rio de Janeiro kam, ins Schwärmen.

Als ich schließlich Ende August zufällig im Berliner Tagesspiegel über dieses Kleinod kolonialer Baukunst las und meinem Mann davon berichtete, schlug der vor, Anfang Oktober mit seiner Schwester und deren Mann dorthin zu reisen. Am vergangenen Samstag nun machten wir uns auf den Weg.

Im Vorfeld hatte ich zwei Zimmer in einer charmanten Pousada, die ich im Zuge meiner Recherchen entdeckt hatte, gebucht – telefonisch, auf Portugiesisch, ganz ohne Hilfe. Anschließend hatte ich die Buchung inklusive der telefonisch erhaltenen Konditionen schriftlich fixiert und um eine Bestätigung per E-Mail gebeten. Auch das Fremdenverkehrsbüro hatte ich kontaktiert, um Silvia Junghähnel, eine Deutsche, die Touren zur Fazenda da Boa Vista, dem Wohnort von Julia Mann, der Mutter des Schriftstellers Thomas Mann, anbietet, ausfindig zu machen.

 

Um die Route selbst hatte ich mich nicht gekümmert. Besser wäre es gewesen, denn einmal mehr hielt die Anreise an unseren Urlaubsort einige Überraschungen bereit.

 

Als wir ins Auto stiegen, schlug ich vor, die Küstenstraße zu wählen, denn meine Freundin Tereza und Heloisa, unsere Sprachlehrerin, hatten begeistert von dieser malerischen Route berichtet. Doch mein Mann entschied sich, dem Navigationssystem zu folgen, nicht zuletzt, da ich keine Informationen zum Verlauf der Küstenstraße beizutragen hatte. Wir nahmen also die Rodovia Presidente Dutra, die Via Dutra (SP-60/BR-116), die Autobahn, die São Paulo und Rio de Janeiro verbindet.

 

Von Guaratinguetá wurden wir über die SP 171, eine asphaltierte Landstraße, geleitet. Eigentlich hätten wir bereits hier ahnen können, was vor uns liegt, denn unmittelbar zu Beginn dieser Straße waren im Abstand von wenigen Metern zwei Hinweisschilder angebracht, mit ganz unterschiedlichen Kilometerangaben zu unserem Zielort.

 

Wir fuhren durch eine malerische Landschaft, immer höher in die Berge, bis an der Kuppe ein weiteres Schild mit einer beunruhigenden Information auftauchte: “fim da pavimentação” hieß es, Ende der befestigten Straße. Ein VW-Käfer mit offener Motorhaube stand unmittelbar daneben. Ich übersetzte das Schild, doch wir verinnerlichten die Aussage nicht wirklich.

 

Mein Mann betätigte die Kupplung und das Auto, eine Limousine, glitt in den Nebel. Wir befanden uns, ohne dies zu wissen, inmitten der Mata Atlântica, des atlantischen Regenwalds, in der Serra da Bocaina (Bocaina: auf Tupi-Guarani „Wege in die Höhe“), mit dem 2.200 Meter hohen Berggipfel Pico do Tira Chapéu. Dass die Bäume dort bis zu 40 Meter hoch wachsen, erschloss sich uns sofort. Denn, wenn wir uns nicht gerade durch eine Wolke fortbewegten, konnten wir die atemberaubende Natur bestaunen.

 

Sehr zögerlich - langsamer als im Schritttempo - bewegten wir uns fort, denn die Straße, die sowohl unser Navigationssystem als auch Google Maps als Route zwischen São Paulo und Paraty auswiesen, war nur mit größten Mühen befahrbar.

 

Obwohl wir vor der Überquerung tiefer Krater stets genauestens

überlegten, wie diese am besten zu umfahren wären, wurden wir

hin- und her gerüttelt und setzen wir häufig auf.

 

Irgendwann begegneten uns erste Fahrzeuge, durchweg Geländewagen, deren Fahrer uns jeweils fassungslos anstarrten. Unsere Verzweiflung ließen wir uns nicht anmerken. Im Gegenteil, wir hoben stets, Optimismus ausstrahlend, unsere Daumen. “Tudo bem”, alles ist gut.

 

Plötzlich tauchten die ersten VW-Käfer, in Brasilien unter dem Namen Fusca bekannt, auf, an die wir uns hängten, in der Hoffnung, so wertvolle Hinweise zur Umfahrung der Abgründe zu erhalten. Doch kaum kamen wir heran, brausten sie schon davon.

 

Als wir auf halber Strecke, auf einer Art Plateau, kurz anhielten, um etwas zu verschnaufen, drosselte schließlich eine der Renn-Ameisen ihr Tempo, mit dem Angebot, in dieser misslichen Lage hilfreich zu sein. “Tudo bem, obrigada”.

 

Noch waren wir voller Hoffnung, uns aus dieser selbstverschuldeten Misere aus eigener Kraft befreien zu können. Bis wir, in der Gegend um Cunha, auf eine zarte Brücke zusteuerten, auf deren anderer Seite ein massiver Felsbrocken drohte. Plötzlich ging alles ganz schnell. Mein Mann, dessen unerwartete Coolness mich zutiefst beeindruckte, fuhr einfach, scheinbar ohne zu überlegen, wagemutig auf das gigantische Felsmassiv zu und hatte es schon umrundet. Wenn wir dies lebendig überstanden hatten, würden wir auch den Rest des Weges bewältigen.

 

Nachdem wir einmal mehr von einem Fusca abgehängt wurden, staunten wir nicht schlecht, als dieser plötzlich wieder auftauchte, vor einer Art Kneipe am Wegesrand, vor der Geländewagen- und Fuscafahrer einträchtig Caipirinha tranken. Ein Wahnsinn, denn schon völlig klaren Geistes war jedes einzelne metertiefe Schlagloch eine große Herausforderung.

 

Nach wenigen Kilometern änderte sich unerwartet plötzlich der Straßenbelag. Wir fuhren wie auf Wolken, auf einer asphaltierten Straße bis Paraty.

 

Als ich Tereza von unserem Abenteuer berichtete, reagierte die, ebenso wie unsere Lehrerin Heloisa, völlig fassungslos. Ja, beide hatten die Küstenstraße gepriesen, die BR-101 war nie ein Thema gewesen.

 

Heute erzählte ich Eliene, unserer Empregada, von unserer Reise und zeigte die Fotos unseres steinigen Weges nach Paraty. Ungläubig riss sie die Augen auf. Einen Moment war sie stumm. Dann sagte sie nur noch “Nossa”, was in diesem Zusammenhang soviel bedeutet wie Himmel!