Es regnete in Strömen, seit Stunden, so wie es nur in subtropischem Klima regnen kann. Die Morumbi Brücke war hinter einer Wand aus Regen verschwunden, es war, als existiere Brooklin Novo nicht mehr. Die Megacity wirkte wie eine Geisterstadt, nicht zuletzt, da wohl tatsächlich viele Paulistanos die sonst so geschäftige Stadt zum Jahreswechsel verlassen hatten.
Tapfer entschied sich mein Mann, dem Regen zu trotzen und in dieser unwirklichen Atmosphäre zum Bankautomaten aufzubrechen, denn die Taxifahrt zur Terraço Itália, dem Ort, an dem wir unser erstes Silvester in unserer neuen Stadt verbringen wollten, ließe sich aller Wahrscheinlichkeit nach besser bar bezahlen.
Während ich noch überlegte, wie ich trockenen Fußes das Taxi besteigen könnte, kehrte mein Mann, im wahrsten Sinne des Wortes, aufgelöst zurück.
An keinem Ponto hätte er auch nur ein Taxi gesehen. Dafür aber umso mehr Taxis, die Partygänger an ihren Häusern abholten. Ich hätte mich nachmittags, beim Versuch, ein Taxi an unserem Ponto zu bestellen, zu leicht abspeisen lassen. Jetzt würden wir bestimmt kein Taxi bekommen.
Ich verzichtete also darauf, erneut bei unserem Ponto anzurufen und entschied mich gleich für einen Anruf bei Ligue Taxi, dem Funktaxidienst der Stadt. Nachdem ich die unzähligen Fragen der Disponentin erfolgreich beantwortet hatte, erklärte ich meinem Mann siegessicher, dass alles geregelt sei. Das werden wir noch sehen, entgegnete er skeptisch.
Nach ungefähr zehn Minuten klingelte mein Mobiltelefon. Das würde die telefonische Bestätigung sein, da war ich sicher. Doch nein, die Disponentin sprach hektisch auf mich ein. Ich verstand nicht alles, nur so viel, dass wir warten (“esperar”) müssten.
In Anbetracht der Uhrzeit, es war deutlich nach 21.00 Uhr, wollte ich auf Nummer sicher gehen und bat Tereza, meine Freundin in allen Lebenslagen, bei Ligue Taxi anzurufen, um den aktuellen Stand der Dinge zu eruieren.
Während sie auf einer anderen Leitung mit der Disponentin sprach, ging bei mir ein weiterer Anruf ein, den ich sogleich annahm. “Vinte minutos”, zwanzig Minuten, müssten wir uns noch gedulden, erklärte eine freundliche, weniger hektische Dame. Das bestätigte auch Tereza, die nach getaner Arbeit zu ihrem eigenen “festa de réveillon” aufbrach.
Inzwischen hatte ich auch die Portaria, die Pforte, darüber informiert, dass wir ein Taxi erwarteten und gebeten, dessen Ankunft anzukündigen. Das Taxi kommt ohnehin nicht. Du musst nicht alle Leute verrückt machen, erklärte mein Mann missmutig.
Wenige Minuten später klingelte schließlich das Haustelefon. Das Taxi sei eingetroffen, berichtete der engagierte Porteiro.
Wir fuhren durch den peitschenden Regen, durchquerten tiefe Pfützen, sahen die wenigen Menschen, die in der Geisterstadt unterwegs waren, dem heftigen Niederschlag entfliehend, hektisch in Autos einsteigen, bis wir plötzlich in einer Autoschlange standen. Vor uns Männer mit überdimensionierten Schirmen, die mehr an Sonnen- als denn an Regenschirme erinnerten.
Wir waren angekommen am Edifício Itália, dem vom in Deutschland geborenen Architekten Franz Heep erbauten, 168 Meter hohen Wolkenkratzer, dessen Eingangsbereich den Charme eines in die Jahre gekommenen Bürogebäudes versprühte. Einzig das ausgesprochen elegant gekleidete Paar, mit dem wir einen Fahrstuhl teilten, ließ die Exklusivität der Location vorausahnen.
Und tatsächlich: Die Terraço Itália ist beeindruckend, nicht zuletzt durch ihren Retro-Charme. Wir genossen das exzellente Büffet, die ausgesprochen heitere, leichte Atmosphäre.
Wir konnten uns nicht sattsehen an den vielen interessanten Menschen – waren fasziniert vom in die Jahre gekommenen Hippie mit langem weißen Zopf, bekleidet mit einem weißen, in sich gestreiften Anzug und spitzen weißen Schuhen, den Damen der Gesellschaft in ihren goldenen und silbernen Paillettenkleidern, den lässigen jungen Männern in Jeans und Polohemd, dem in eine Art pastellfarbenes Bonbonpapier gehüllten jungen Mädchen und einer Frau, die mindestens 1,80 Meter groß war, die Statur einer Schwimmerin oder Kugelstoßerin hatte und in weißen Leggins und einer mehr als knapp sitzenden Korsage, die ihre üppigen Rundungen betonte, ausgelassen zu den wechselnden Bands tanzte. Wahrhaft brasilianisch und eben nicht verkrampft und körperlos deutsch.
Brasilianisch waren auch meine Begegnungen auf der Sonnenterrasse, die auch bei Regen einen Besuch lohnt. Schnell kam ich mit einem Ehepaar, durch die Farbe Grün als Fans des Fußballclubs Palmeiras und als Hoffende erkennbar, ins Gespräch. Aus dem Interior, dem Landesinneren, stammten sie, seine Mutter sei Deutsche, mit Namen Dietrich, und er liebe Borussia Dortmund.
Eine elegante Dame in weißer langer Robe gesellte sich mit ihrem höchst charmanten italienischen Ehemann hinzu und schaltete sich sofort in das lebhafte Gespräch ein. Dies tat auch eine weitere Frau, die, gegen alle “tradições de Réveillon”, schwarz-rot gekleidet war und aus Deutschland stammte. Jörg, ihr Freund, arbeite seit drei Wochen in São Paulo, sie selbst habe hier zwei Wochen mit ihm verbracht und müsse bald zurück.
Einhellig beschlossen wir, unsere Männer hinzuzuholen, die wir in den Festsälen zurückgelassen hatten, denn die sollten sich kennen lernen. „Die deutschen Zwillinge“, stellten die Sonnenterrassengäste fest, denn beide Männer trugen dasselbe weiße Hemd mit auffällig blauem Logo.
Lautmalerisch setzte Jörg die Sonnenterrasse über seine Pläne für die kommenden elf Monate, die er hier verbringen wird, in Kenntnis. Wie schön, einen angstfreien Menschen zu erleben, der seine sprachlichen Lücken, ebenso wie ich, auf diese Weise kompensiert.
Es war ein amüsanter Abend, in dessen Rahmen wir mit einem weiteren Ehepaar ins Gespräch kamen: Als Amerikaner wurden sie uns vorgestellt, als Brasilianer entpuppten sie sich – er mit belgischen Vorfahren und beide mit vielen Jahren Lebenserfahrung in Orlando, Florida. Das ist São Paulo, eine internationale Stadt, die glücklicherweise sehr brasilianisch ist und hoffentlich bleibt.