Der Begriff des Stereotyps wurde bereits 1922 vom US-Journalisten Walter Lippmann in die Sozialwissenschaften eingeführt, der damit die „Bilder in unseren Köpfen“ beschrieb. In seiner Arbeit “Public Opinion” − Die Öffentliche Meinung, die als bahnbrechend für die Stereotypenforschung gilt, definierte er das Stereotyp als „eine erkenntnis-ökonomische Abwehreinrichtung gegen die notwendigen Aufwendungen einer umfassenden Detailerfahrung”.
Das Institut für Interkulturelle Kompetenz und Didaktik e.V. (IIKD) sieht Stereotypen heute als mentale Vereinfachungen komplexer Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Personengruppen. Obwohl diese vereinfachten Eindrücke und Darstellungen nicht immer wahrheitsgetreu seien, benötigten wir sie, um die Komplexität unserer Umwelt zu vereinfachen und die Interaktion mit Menschen anderer Gruppen zu erleichtern.
Motiviert durch den Vortrag „Interkulturelle Herausforderungen in Brasilien“ im Rahmen des Treffpunkt São Paulo, der immer wieder Stereotypen bemühte, machte ich mich an die Recherche und stieß auf ein sehr unübersichtliches Feld.
Der Ansatz, Menschen weltweit über „die Deutschen“, „die Amerikaner“, „die Brasilianer“ zu informieren, also der Rückgriff auf Stereotypen, ist nicht selten. So veröffentlicht die Bank HSBC, laut CNN-Ranking Global 500 das 46. größte Unternehmen der Welt, sogenannte HSBC Country Guides für insgesamt 21 Länder. Im Guide “Doing business in Brazil” wird der Leser unter anderem über die brasilianische Etikette informiert. Von der Begrüßung über die Anrede, Ansprache und die Verwendung von Titeln bis hin zu den Hierarchieformen des Landes reicht die Beschreibung, die mit einem Allgemeinplatz zur Bedeutung von persönlichen Beziehungen und Vertrauen im Geschäftsleben endet.
Die Internetplattform eDiplomat, die es sich nach eigenen Angaben zur Aufgabe gemacht hat, ein (kulturelles) Bewusstsein zu schaffen, die Interaktion unter Diplomaten zu steigern und diejenigen, die an Diplomatie interessiert sind, zu informieren und zu vernetzen, beginnt ihre Ausführungen zu Brasilien ebenfalls mit einer Kurzbeschreibung „der Brasilianer“. Diese seien freundlich, unkonventionell, von ungeheurer Lebenslust, sehr risikofreudig und ausgesprochen kreativ. Mit einem Anteil von 73 Prozent seien sie vorwiegend römisch-katholischen Glaubens. In ihre großen Familien würden sie häufig enge Freunde integrierten. Familie, Bildung und der sozio-ökonomische Hintergrund seien für Brasilianer sehr wichtig, führt die von Diplomaten mitbegründete Plattform aus. Acht weitere Rubriken informieren über das größte Land Südamerikas: Begrüßung, Körpersprache, Unternehmenskultur, Abendessen und Einladungen, Kleidung, Geschenke, hilfreiche Hinweise und eine Rubrik jeweils speziell für Männer und Frauen. Sicher kein schlechte erste Informationsquelle.
Ist ein Kulturtraining hilfreicher, vielleicht sogar das Allheilmittel? Die interkulturelle Beratungs- und Trainingsindustrie, die in den 1950er in den USA damit ihren Anfang nahm, dass der Anthropologe Edward T. Hall Kulturtrainings für Angestellte des Foreign Service Institute (FSI) entwickelte, die US-Bundesbehörde, die Militärangehörige, Diplomaten und weitere Fachkräfte für den auswärtigen Dienst oder eine entsprechende Tätigkeit in Washington trainiert, boomt.
Interkulturelle Kommunikation ist zu einem festen Begriff geworden und wird, ebenso wie das Interkulturelle Management, an Hochschulen und Businessschools weltweit unterrichtet.
In über 70 Prozent der großen amerikanischen Firmen werden interkulturelle Trainings durchgeführt. „Kulturelle Kompetenz ist zum wesentlichen kulturellen Kapital von Geschäftsleuten und Firmenmitarbeitern geworden und die Bestseller der interkulturellen Gurus Geert Hofstede und Fons Trompenaars sind die Knigges von heute.
Die Bandbreite der Bücher und Trainings, Tests, Simulationsspiele und Videos ist beeindruckend. Zwischen den obligatorischen Pre-Departure- und Re-Entry-Trainings kann man sich unter anderem mit Verhandlungsführung, Konfliktverhalten, der besonderen Situation von Ehefrauen und Kindern, Sozialetikette oder Personalauswahl befassen, alles natürlich zwischen den Kulturen – und weltweit“, weiß die Ethnologin Dr. Joana Breidenbach zu berichten.
Nach Auffassung der Expertin biete manch interkulturelles Buch und Training Laien hilfreiche Anhaltspunkte und Hintergrundinformationen zu ungewohnten Lebensformen und sozialer Etikette, doch selbst Interkulturalisten könnten nicht belegen, dass Kulturtrainings nachhaltig die Verständigung förderten. Vieles deute eher darauf hin, dass die herkömmlich vermittelten Konzepte in der Praxis negative Auswirkungen hätten.
Mit stereotypen Kulturbildern ausgerüstet, passiere es nur zu leicht, dass Menschen den kulturell Fremden in Schablonen pressen und den strategisch Handelnden verkennen würden. Was schlägt die Autorin zahlreicher Fachartikel also vor. „Schablonen stehen Dialogen im Weg, ob über kulturelle Grenzen hinweg oder innerhalb ihrer Grenzen“.
Kulturspezifische Kenntnisse dürften nicht davon abhalten, Dialogpartner aus anderen Ländern auch als strategisch Handelnde zu erkennen, schreibt die Autorin, die ein höchst interessantes Beispiel anfügt: So ging ein exzellent kulturtrainierter Deutscher davon aus, dass sein ägyptischer Gesprächspartner, den er im Rahmen eines Forschungsprojekts traf, einen autoritären Führungsstil gewohnt sei. Dabei übersah er nach Angaben der Expertin allerdings völlig, dass sein Gegenüber in Harvard studiert hatte, vier Sprachen fließend sprach und ein erfahrener Kosmopolit war.
Keine vorgefertigte Lösung, so Breidenbachs Credo, erspare Menschen über ihre ganz spezifischen Interessen und Bedürfnisse zu verhandeln. Nur über diese hochdifferenzierten Interessenprofile seien zukunftssichere Lösungen möglich.
Statt interkultureller Checklisten seien vor allem kommunikative Fähigkeiten erforderlich. Zuhören! Und dies geht nur mit exzellenten Sprachkenntnissen oder – für den Übergang – mit einem klugen, kulturgewandten, vertrauenswürdigen Übersetzer.