Es bedarf eines hohen Maßes an Aufmerksamkeit, einer ausgeprägten Geschicklichkeit oder viel Übung, um sich sicher im öffentlichen Raum der Megacity bewegen zu können.
Über 30.000 Kilometer Gehwege durchziehen São Paulo – und nahezu jeder einzelne Meter birgt Gefahren, denn kein Bodenbelag gleicht dem nächsten und kaum ein Abschnitt weist keine Gehwegschäden auf, sieht man einmal von den großen Prachtstraßen ab.
Da kann der Weg zum Supermarkt bereits zum Balanceakt werden. In unserem Fall sind knapp über 300 Meter zurückzulegen. Selbst diese kurze Strecke hat ihre Tücken. Zehn mächtige Strommasten, zahlreiche Bäume, Beete und unglücklich platzierte Straßenschilder sorgen dafür, dass zwei Menschen einander kaum passieren können, selbst ohne die häufig erforderlichen Regenschirme.
Die eigentliche Herausforderung besteht allerdings in der unfallfreien Überwindung der unterschiedlichsten Bodenbeläge. Da wechselt die grobe Pflasterung mit kleinen Pflastersteinen, abgelöst durch Bodenfliesen und Betonplatten, jeweils mit gefährlichen Übergängen, unmotivierten Stufen und großen Kratern. Abschüssige Bürgersteige, mehr die Regel als denn eine Seltenheit, erhöhen den Schwierigkeitsgrad.
Treffen mehrere Faktoren aufeinander, gilt es, besonders wachsam zu sein. So um unseren Ponto, den Taxistand, herum. Hier ist der Bürgersteig durch den überdachten Stand und zahlreich wartende Fahrer sehr schmal, abschüssig und ausgesprochen schadhaft. Da sollte man sich nicht dazu hinreißen lassen, der lebhaften Kommunikation der Fahrer zu lauschen, denn dann ist der Sturz vorprogrammiert.
Pro Jahr verunfallen nach offiziellen Angaben über 100.000 Menschen auf den Bürgersteigen der Megacity. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, denn nicht jeder, der Opfer der halsbrecherischen Bürgersteige wird, geht zum Arzt oder zeigt seinen Unfall bei der Prefeitura, der Stadtverwaltung, an. Meine Mutter beispielsweise stürzte am zweiten Tag ihres Besuchs auf einem völlig desolaten Gehweg in unmittelbarer Nähe. Tapfer ertrug sie die schmerzhaften Hämatome, die der Aufprall mit sich brachte.
Gerade die Anfangszeit ist tückisch, denn der an gute Gehwege gewohnte Mitteleuropäer schenkt der Beschaffenheit des Untergrunds wenig Beachtung. So knickte mein Mann in den ersten Wochen und Monaten vielfach um, häufig mit schmerzhaften Folgen, während ich mich schon nach wenigen Tagen darauf beschränkte, theatralisch über den Bürgersteig zu stolpern.
Alles eine Frage der Übung – denn von der ersten Stunde an bewegte ich mich weitestgehend zu Fuß durch die Megacity – und des richtigen Schuhwerks. Nach meinen ersten Bürgersteig-Stunts machte ich es mir zur Gewohnheit, elegante Schuhe nur noch dann zu tragen, wenn ich im Auto unterwegs bin. So bleiben zarte Absätze unbeschädigt und Knochen, Gelenke und Weichteile verschont.
Bald könnten jegliche Vorsichtsmaßnahmen überflüssig sein, denn sowohl die Prefeitura, als auch Verbände und Unternehmen haben sich der Bürgersteige angenommen: Ab 09. Januar 2012 wurde das Gesetz 15.442, das unter anderem den Bau und die Instandhaltung von Bürgersteigen regelt, mit der Veröffentlichung im Amtsblatt, dem Diário Oficial da Cidade de São Paulo, wirksam.
Neu definiert wurden die Abmessungen der Bürgersteige. Deren Mindestbreite wurde von 90 Zentimetern auf 1,20 Meter erhöht. Bäume, Strom- und Laternenmasten und die metallenen Abfallaufbewahrungskästen sollten diesen Raum nicht verringern. Wer die aktuelle Situation kennt, wundert sich nicht, dass ein Katalog von Ausnahmeregelungen bereits im Gesetzestext verankert ist.
Auch wurde die Zuständigkeit für die Gehwege erweitert. Neben den Eigentümern, die bislang für den Zustand der Bürgersteige vor ihren Privat- oder Geschäftsimmobilien verantwortlich zeichneten, dürfen nun auch die Mieter in die Pflicht genommen werden. Kommen Mieter oder Eigentümer ihrer Verantwortung nicht nach, drohen heftige Strafen. Fielen vor der Gesetzesänderung Bußgelder zwischen RS 100 und R$ 500, je nach beschädigtem Bereich, an, so sind dies heute R$ 300 pro laufenden Grundstücksmeter, unabhängig von der Größe des beschädigten Areals.
Bei verschmutzten oder mit Schutt vollgestellten Gehwegen wird man mit R$ 4 pro Quadratmeter zur Kasse gebeten, selbst wenn die Müllsäcke vor der Abholung durch die Müllabfuhr zu lange den Bürgersteig blockieren.
Bei der Umsetzung des ehrgeizigen Gesetzes wird auf die Unterstützung der Bevölkerung gebaut. Die soll Schäden unter der für Bürgerangelegenheiten allgemein bekannten Telefonnummer 156 oder auf den Internetseiten der Stadtverwaltung anzeigen. Bereits zum Zeitpunkt der Abfassung des Gesetzes im Jahr 2011, so ist zu lesen, habe die Stadtverwaltung damit begonnen, 145.000 Quadratmeter Bürgersteige zu sanieren. Mit einem Investitionsvolumen von R$ 20,4 Millionen seien die Bürgersteige vor 172 Schulen, 15 Basisgesundheitszentren, vier Parks, zehn Erholungs- und Sportzentren und 23 strategisch wertvollen Zugängen erneuert worden.
Die Organisatoren der Kampagne “Calçadas do Brasil”, in deren Kontext zwischen Februar und April 2012 Bürgersteige in zwölf brasilianischen Hauptstädten untersucht wurden, betrachten die Situation in der überwiegenden Mehrheit der Städte allerdings als prekär.
So kommt Marcos de Sousa, Koordinator der gerade veröffentlichten Studie, zu dem Ergebnis, dass nur 21 von insgesamt 102 analysierten Bürgersteigen eine akzeptable Qualität aufweisen.
Am schlechtesten schnitt Manaus mit 3,6 Punkten, gefolgt von Rio de Janeiro mit 4,5 und Salvador mit 4,6 Punkten ab. São Paulo belegt mit 6,3 Punkten einen erstaunlichen fünften Platz, der sich nicht zuletzt durch den Spitzenwert von 10 Punkten für die Avenida Paulista erklärt. Die Bestnote erteilt die Studie übrigens den Bürgersteigen von Fortaleza, dicht gefolgt von Belo Horizonte.