Meinen ersten Arztbesuch in der Megacity habe ich lange aufgeschoben, trotz einer massiven Erkältung. Im Mai 2011 hatte mein Organismus nahezu schutzlos mit Tiefsttemperaturen von um die 12 Grad gekämpft, ohne wärmende Kleidung, denn die befand sich zu diesem Zeitpunkt in unserem Container, der im Hafen von Santos auf seine Freigabe wartete. Als das Thermometer im Juni an manchen Tagen gar bis auf eisige 9 Grad sank, vermochte auch die wärmste Kleidung nichts mehr auszurichten.
Im neu bezogenen Apartment, noch ohne jedes Heizgerät, fror ich mehr als ich je zuvor gefroren hatte. Ich sollte doch zum Arzt gehen, rieten Menschen aus meinem Umfeld. Wenn das so einfach wäre, dachte ich.
Irgendwann leuchtete schließlich auch mir ein, dass die Erkältung, die sich täglich verschlimmerte, nur mehr medikamentös in den Griff zu bekommen wäre.
Ausgerüstet mit der Ärzteliste des Generalkonsulats, wandte ich mich an die Office-Managerin meines Mannes, meine Ansprechpartnerin in Sachen Krankenversicherung, die mir nach einer kurzen Recherche mitteilte, dass keiner der beiden aufgelisteten mehrsprachigen HNO-Fachärzte zu unserem Convênio, unserem Krankenkassen-Bündnis, gehöre.
Jede private Kasse habe Partner in den unterschiedlichen medizinischen Bereichen. Unsere beispielweise arbeite mit dem Hospital Alemão Oswaldo Cruz, dem Labor Fleury und ausgewählten Fachärzten, von Allgemeinmediziner bis zum unaussprechlichen Otorrinolaringologista, dem Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Hier seien alle Kosten abgedeckt.
Ginge ich zu einem Arzt, der nicht zum Convênio gehöre, müsse ich die so genannte Consulta, den Arztbesuch, vor Ort bezahlen. Ein Teilbetrag würde mir später, nach Einreichung der Rechnung, erstattet.
Etwas ratlos saß ich der Office-Managerin gegenüber. Sollte ich einen der Spezialisten von der Ärzteliste wählen, die Consulta vorstrecken und mich auf den Weg nach Morumbi oder Paraiso machen, in Stadtteile, die mir damals so geläufig waren wie innerstädtische Bereiche von Addis Abeba oder Jakarta, oder sollte ich einen Vertragsarzt in der Nähe aufsuchen, mit dem ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verständigen kann. Pest oder Cholera?
Da ich die Entscheidung aufgrund meiner damals sehr rudimentären Sprachkenntnisse nicht aufschieben konnte, denn niemals hätte ich telefonisch allein einen Termin vereinbaren können, bat ich die Office-Managerin, einen Vertragsarzt in der Nähe kontaktieren und den nächstmöglichen Termin zu vereinbaren. Wie ich die Herausforderung Arztbesuch sprachlich bewältigen könnte, würde ich mir anschließend überlegen.
Als ich eine Freundin, die zum damaligen Zeitpunkt schon ewig in der Megacity lebte, telefonisch über die aktuelle Situation ins Bild setzte, nahm sie das Heft in die Hand und bot an, mich abzuholen und zum Arzt zu begleiten. Geschwächt aber zuversichtlich stieg ich am Folgetag, dem 10. Juni, in ihr Auto, gespannt, was mich erwarten würde.
Nach kurzer Zeit erreichten wir die Praxis, die auf den ersten Blick vielversprechend erschien. Ein Park-Service-Mitarbeiter, ein Manobrista, der vor dem von außen gepflegt erscheinenden Haus wartete, nahm das Auto meiner Freundin entgegen und wir konnten sofort, ohne lästige Parkplatzsuche, hineingehen.
Ohnehin durch die Erkältung entkräftet, begab ich mich in die Hände meiner Freundin, die den aufwändigen Verwaltungsakt für mich übernahm. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, nahmen wir im gut gefüllten Warteraum mit Retrocharme Platz und harrten der Dinge, die da kommen würden. Der ausgeprägte Retrostil setzte sich im Behandlungsraum, den wir nach langer Wartezeit über eine sehr schmale Treppe erreichten, fort. Ich gebe zu, ich habe hohe Maßstäbe, denn die Klinik, in der ich zuletzt als Pressesprecherin gearbeitet habe, ist in allen Fachabteilungen apparativ wie personell hervorragend ausgestattet.
Meine Freundin erläuterte dem älteren, von Sekunde zu Sekunde unsicherer wirkenden Arzt die Problematik meiner Sprachkenntnisse, beschrieb meine Symptome, übersetzte die Nachfragen des Mediziners und meine Antworten. Eine skurrile Situation.
Auf die etwas holprige Anamnese folgte die „klinische“ Untersuchung, die mir als kundigem Laien völlig absurd vorkam. Sei es drum, dachte ich mir. Wenn ich denn ein wirksames Medikament verordnet bekomme, hat sich der Besuch in jedem Fall gelohnt.
Die Verordnung bekam ich und eine irritierende Zusatzdiagnose, die meinem anatomischen Verständnis nach ziemlich aus der Luft gegriffen war, obendrein. Da könnte ein Knoten an meiner Schilddrüse sein. Ich sollte einen Ultraschall machen lassen und mich dann wieder vorstellen. Das werden wir sehen, schoss es mir in den Kopf. Erst einmal wollte ich mich um das Naheliegende kümmern und fuhr mit meiner Freundin zur nächstgelegenen Drogeria, einer Mischform aus Apotheke und Drogerie.
Hier wartete die nächste Überraschung, denn der Arzt hatte mir das Antibiotikum nicht etwa in Tablettenform, sondern als Spritze verschrieben. Bevor irgendetwas geschehen konnte, fiel erneut ein größerer Verwaltungsaufwand an. Nachdem auch dieser erledigt war, sollte ich einem jungen Mann in eine Kabine folgen, allein, ohne meine Freundin. Wem von uns beiden dies unangenehmer war, lässt sich auch im Nachhinein schwer ermitteln. Unter Schweißausbrüchen bereitete der junge Mann die Spritze vor, während ich mich fragte, wo der die Spritze wohl setzen würde. Mit rotem Kopf zeigte der Jüngling schließlich auf mein Hinterteil und machte sich bereit. Geschafft – im wahrsten Sinne des Wortes!