Oktoberfest in São Paulo

„Wir sehen uns dann auf dem Oktoberfest im Club Transatlântico“, beendete Klaus Dormien, zu diesem Zeitpunkt Geschäftsführer der Brasil-Post, unser Telefonat, als bestünde kein Zweifel daran, dass mein Mann und ich das, laut seinen Angaben, „mit Abstand beste Fest innerhalb der deutschen Community“ besuchen würden.

„Jetzt müssen wir wohl zum Oktoberfest“, sagte ich missmutig zu meinem Mann, denn mit dem Oktoberfest konnte ich bislang ungefähr so viel anfangen wie mit dem Sommerfest einer Schrebergartenkolonie. Viel Bier, fetthaltige Speisen und laute Musik, nichts davon nach meinem Geschmack. Wenigstens tragen die Gäste keine ballonseidenen Trainingsanzüge, ging es mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an die Oktoberfest-Fotos aus dem Vorjahr, auf mehreren Seiten in der Brasil-Post abgedruckt, die Frauen in beeindruckenden Dirndln und Männer in schmucken Lederhosen zeigten. Immerhin gäbe es etwas zum Anschauen, tröstete ich mich und stellte mir sogleich die Frage, was ich wohl anziehen könnte.

 

Ich rekapitulierte die omnipräsente Oktoberfestberichterstattung, die ich über die Jahre in Deutschland mehr oder minder freiwillig verfolgt hatte, und kam zu dem Ergebnis, dass ich mit einer rot-weiß karierten Bluse bestens ausgestattet sein sollte. Eine solche Bluse hatte ich Tage zuvor bei Hering gesehen. Hering, so weiß ich heute, ist eines der ältesten Textil- und Bekleidungsunternehmen Brasiliens und ist mit 564 Stores in Brasilien, Bolivien, Chile, Paraguay, Uruguay und Venezuela höchst erfolgreich. Verglichen wird das Unternehmen gern mit dem amerikanischen Bekleidungsriesen GAP, der ebenfalls erschwingliche Basics verkauft.

 

Dass ausgerechnet eine brasilianische Bekleidungskette oktoberfesttaugliche Kleidung anbietet, verwundert mich heute nicht mehr, denn Hering wurde 1880 von den deutschen Brüdern Bruno und Hermann Hering in Blumenau im Bundesstaat Santa Catarina gegründet, also in der Stadt, die seit 1984 ihr eigenes Oktoberfest veranstaltet. Hinter dem Original in München, dem Oktoberfest im chinesischen Qingdao, dem Fest in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover und dem Oktoberfest Kitchener-Waterloo in Kanada nimmt Blumenau mit etwa 600.000 Besuchern pro Jahr offiziell weltweit den fünften Rang ein.

 

Aus rot-weiß wurde rosa-weiß, denn am Morgen der Veranstaltung, bevor ich mich auf den Weg zu Hering machen wollte, stellte ich zu meiner Verwunderung fest, dass ich bereits drei karierte Blusen besitze, die mir allesamt besser stehen würden als die Variante in rot-weiß.

 

Damit, dass das Oktoberfest in der Megacity so viel Anklang finden würde, hatte ich nicht gerechnet. Als wir ungefähr zwei Stunden nach dem offiziellen Auftakt des auf zwölf Stunden angelegten Events eintrafen, amüsierten sich bereits hunderte Menschen.

 

Karierte Blusen und Hemden standen, wie erwartet, hoch im Kurs. Ebenso Oktoberfest-T-Shirts von Festen auf der ganzen Welt, meist getragen von reiselustigen Brasilianern, die das Gros der Besucher ausmachten. Ganze Großfamilien mit und ohne deutsche Wurzeln saßen an den Bierzelttischen, standen am Büffet oder trugen Schweinshaxen, Würste oder ähnliche Kalorienbomben durch die Gegend. „Komisch, aus der deutschen Community sind nicht wirklich viele gekommen“, sinnierte ich lautstark, während mein Mann und ich die Reihen durchstreiften, denn die klassische Bierzelt-Musik, ein Stimmungsträger, wummerte durch den großen Saal. Neben einigen Paaren, die wir auf unserer Runde begrüßten, entdeckte ich schließlich eine Frau, die ich vom Treffpunkt-Frühstück kannte. An der Hand hielt sie ihre Tochter, die einfach toll aussah, denn sie trug eine traditionelle Tracht und einen rot-weiß-blauen Blumenkranz im Haar. „Lass uns später reden, meine Tochter muss gleich tanzen“, erklärte die aufgeregte Mutter eilig und entschwand.

 

Inzwischen waren unsere Freunde, Tereza und Klaus, eingetroffen, die außer uns keine deutschen Kontakte pflegen. Doch das Oktoberfest interessierte die Brasilianerin und den Franken, der vor vielen Jahren nach Lateinamerika ausgewandert war. „Ich würde gern die Tänze anschauen“, sagte ich zu Tereza, und deutete in Richtung Bühne, denn die Darbietungen interessierten mich weit mehr, als das gastronomische Angebot.

 

Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass Volkstanz mich derart begeistern könnte. Viele kleine, vielfach blonde Mädchen und zwei ernste Jungen präsentierten zusammen mit ihrer Lehrerin, einer schlanken Frau, die aus einem anderen Jahrzehnt zu stammen schien, Tänze aus unterschiedlichen Landstrichen und Ländern. Eine Aufführung mit Heimatfilm-Flair.

 

Unwirklich auch die Band, die das gesamte Fest bestritt. Der engagierte Bandleader, dessen Deutsch mehr an eine Fremdsprache erinnerte, brachte den Saal mit Après Ski Hits zum Kochen. Offensichtlich muss es nicht immer Samba oder Bossa Nova sein, denn die brasilianischen Oktoberfestler tanzten mit vollem Einsatz, Männer, die einander eingehakt hatten, Paare, Kinder.

 

Über 10.000 Kilometer entfernt von der Original-Wiesn erlebte ich bei Mineralwasser und Sauerkraut ein Fest, das mich wider Erwarten begeisterte. Dass deutsches Brauchtum in brasilianischer Interpretation so viel Charme haben könnte, hätte ich nicht gedacht.