„Prävention bezeichnet in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs ein Handlungsprinzip: Praevenire heißt zuvorkommen. Man tut etwas, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden“, schreibt Ulrich Bröckling in seinem Artikel „Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention“, veröffentlicht in “Behemoth. A Journal on Civilisation” aus dem Jahr 2008.
Dieses Mal hatten wir keinerlei Vorkehrungen getroffen. Wir waren einfach nach Deutschland gereist, zusammen, einen Monat vor Weihnachten, damit mein Mann nicht 17 Tage nach seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise nach Deutschland erneut den langen Flug auf sich nehmen müsste. Ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellen würde.
Bereits in der Planungsphase offenbarte sich, dass ich meinen Bruder – wie wir es auch drehten und wendeten – nicht treffen könnte und dass sich eine sehr gute Freundin außer Landes befinden würde. Doch leider war jetzt alles gebucht.
Am Anreisetag würde ich am frühen Nachmittag bei meiner Familie in Bayreuth eintreffen. Ich würde drei volle Tage dort verbringen und am vierten Tag, ebenfalls am frühen Nachmittag, wieder abreisen, denn die Planung meines Mannes hatte sich verändert und wir würden uns bereits am Donnerstagabend und nicht, wie ursprünglich geplant, am Samstagmittag in Berlin treffen.
Nun hieß es nicht traurig sein und jede Minute auszukosten. Und dies tat ich: Ich genoss die Autofahrten durch die idyllischen Landschaften Frankens, die gemeinsamen Mahlzeiten, die Weihnachtseinkäufe und die Abende bei Kerzenschein.
Als der Zug schließlich in Berlin einfuhr, hatte ich zum zweiten Mal das Gefühl, anzukommen. Fast auf den Tag genau 35 Jahre habe ich hier gelebt. Berlin ist mein Zuhause, meine Stadt, deren Gesicht sich während der vergangenen 21 Monate nur unmerklich verändert hat.
Ihre Menschen berühren mein Herz. Unvergleichlich sind die Berliner Taxifahrer, häufig der erste Kontakt des Anreisenden. So musste ich meine Koffer bei Nieselregen allein in den Kofferraum wuchten, denn der Taxifahrer hatte es „im Kreuz“ und fluchte während der gesamten Fahrt zum Hotel. Sie sind ehrlich, die Berliner, und erfrischend authentisch, meinungsstark, wenn auch manchmal faktenarm. Sie tragen das Herz auf der Zunge, haben ein gespaltenes Verhältnis zur Höflichkeit und neigen zur Großspurigkeit. Frei nach Wilhelm Busch denkt sich der Berliner „Höflichkeit ist eine Zier, doch besser lebt sich‘s ohne ihr“.
Sie sind DER Gegenentwurf zu den Paulistanos, deren entgegenkommende Höflichkeit uns das Leben in der Megacity angenehm macht und uns gleichzeitig in die Verzweiflung treibt. Ein Ja kann hier vieles bedeuten: Vielleicht, eines Tages, ich würde ja gern, wenn da nicht noch diese Sache wäre, von der du nichts weißt (und von der ich dir natürlich nicht berichte) oder auch wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen. Wie habe ich diese Taxifahrt durch das novembergraue Berlin genossen, so ganz ohne Weichspülprogramm.
Wir tauchten ein in das klirrend kalte Berlin, wo sich Kälte so ganz anders anfühlt als in der Megacity. Gelobt seien Heizungen und Kerzen, denn es ist einfach wundervoll, völlig durchgefroren ein wohlig warmes Café zu betreten oder in einem ruhigen Restaurant bei Kerzenschein zu speisen.
Alles war so vertraut, auch für meinen Mann, den Aachener, der lange in Neuss und eine Zeit in Düsseldorf lebte, bevor er 2005 nach Berlin kam. Wir trafen Freunde, gemeinsam und unabhängig voneinander, und genossen die Offenheit der Gespräche, ihre Tiefe und die Innigkeit der Beziehungen, die wir in der Megacity schmerzlich vermissen. „Expats wechseln alle zwei bis drei Jahre ihren Einsatzort, da ist es doch verständlich, dass sie keine tiefen Bindungen eingehen, schon um den Schmerz zu vermeiden“, hatte mir eine Freundin, die seit 27 Jahren ein Nomadenleben führt, erklärt. Paulistanos, so meine Sprachlehrerin, würden unglaublich viel arbeiten und hätten große Familien. Der Bedarf an neuen Kontakten hielte sich in der Regel in Grenzen.
Je näher unsere Abreise aus Deutschland rückte, desto mehr phantasierten wir über die Zukunft. Eines Tages würden wir wieder in Berlin leben. Wir würden Vanillequark und Peperonibrötchen zum Frühstück genießen, durch die Stadt streifen, allein, zu zweit, mit Freunden und müssten im Kino nicht mehr frieren.
Hätten wir vor dieser Kurzreise in die Heimat Ulrich Bröcklings Artikel gelesen, wären wir nicht zusammen nach Deutschland geflogen, denn wenn der oder die EINE in der Megacity bleibt, lässt es sich leichter zurückkehren.
Als Einzelreisende war es uns bislang gelungen, den Abschiedsschmerz bei der Abreise aus Deutschland mit der Sehnsucht nach dem oder der EINEN zu überlagern, die wir automatisch auch auf unseren aktuellen Wohnort São Paulo projizierten. „Vorbeugen ist [tatsächlich] besser…“, insbesondere vor Weihnachten, wo die Trennung von den Lieben in der Heimat besonders schmerzlich ist.
Doch auch für Situationen dieser Art hat der Berliner einen Sinnspruch parat: „Nur die Harten kommen in den Garten!“ Weihnachten soll nur kommen. Wir lassen uns bei über 30 Grad bestimmt nicht unterkriegen!