“A Room with a View” oder auch “Love at first sight”

Ganz unerwartet, am Ende eines Feldwegs, traf sie uns: Die Liebe auf den ersten Blick.

An einer kleinen Ausbuchtung an der Estrada p/ O Pico do Itapeva, der Straße zum Gipfel von Itapeva, im Gemeindebezirk Pindamonhangaba, unweit von Campos do Jordão, hatten wir angehalten, um Fotos zu machen.

Ich war vorausgegangen und genoss die atemberaubende Aussicht, als ich hörte, dass ein Auto neben unserem angehalten hatte. Es sei gefährlich, hier unmittelbar an der Straße zu parken, erklärte der Autofahrer meinem Mann, der gerade seine Fotoausrüstung packte. Besser sei es, den Weg weiter hineinzufahren und das Auto dort abzustellen, erklärte der Fahrer, der schließlich selbst den Schotterweg hinunterfuhr – scheinbar ins Nirgendwo.

 

„Klar, es macht Sinn das Auto an einer völlig uneinsichtigen Stelle zu parken. So kann jeder Autodieb ganz in Ruhe arbeiten“, erklärte mein Mann amüsiert, nachdem er unseren Wagen, dem Rat des Fremden folgend, umgeparkt hatte.

 

Das Auto war schnell vergessen, denn das, was vor uns lag, raubte uns den Atem: Etwas unterhalb des Gipfels des fünfthöchsten Berges Brasiliens, der auf 2.030 Meter liegt, konnten wir das Vale do Paraíba, das Paraíbatal, vollständig überblicken, fast so, als könnte man von dort das andere Ende der Welt sehen. Wir stiegen über moosige Felsen, bis wir einen entfernten Hügel entdeckten, auf den ein Weg zu führen schien. Keine Frage, dort wollten wir hin.

 

Wir wechselten auf den Schotterweg, der sich durch die Landschaft schlängelte, und zu unserer großen Freude bergab ging. Noch immer steckte uns die Tour vom Vortag, über die an anderer Stelle zu berichten sein wird, in den Knochen.

 

Heiß war es auch an diesem Tag, sehr heiß sogar. Da half nur der Beduinen-Look. Ich zog mir die leichte, bunt geblümte Bluse, die ich über meinem T-Shirt trug, aus und wand sie mir kunstvoll um den Kopf. Mein extravaganter Look würde so oder so keine Irritationen auslösen, denn weit und breit war kein Mensch zu sehen.

 

Wir genossen die Weite, die Stille, bis wir nach einiger Zeit an eine Weggabelung kamen. Einige hundert Meter weiter unten erblickten wir ein Haus. Lachen hallte von dort durch das Tal. Zu diesem Anwesen war unser Park-Ratgeber also gefahren.

 

Wir wählten den zweiten Weg. Unterschiedliche Braun- und Rottöne bildeten den Untergrund. Jeder deutsche Gärtner wäre begeistert gewesen, denn gesäumt war dieser malerische Weg vom schönsten Steingarten, den ich je gesehen habe.

 

Wir stiegen höher und höher auf diesem leicht kurvigen Weg, der plötzlich von meterhohen Nadelbäumen eingerahmt war. Vor unseren Augen materialisierte sich, einer Fata Morgana gleich, ein Gebäude mit zwei Türmchen – an jeder Seite eines – das idyllisch auf der Bergspitze thronte.

 

Forsch ging mein Mann auf das aus dem Nichts aufgetauchte, längliche Bauwerk, das aussah, als hätte es heftigem Granatenbeschuss getrotzt, zu, um die Lage zu sondieren. „Hier ist niemand“, erklärte er schließlich und stieg die enge Wendeltreppe hinauf, die eines der Türmchen mit Rechteckzinnen ausfüllte. Ich folgte ihm in das klitzekleine, verlassene Domizil, dessen einziges Zimmer vielleicht fünf Meter lang und zwei Meter tief war, blickte aus dem großen Panoramafester im Erdgeschoss, bevor ich ebenfalls die Wendeltreppe erklomm.

 

Nur der Horizont lag vor uns, kein einziges Gebäude war zu sehen von der Dachterrasse dieses Ein-Zimmer-Schlosses. „Das ist der Wahnsinn“, versuchte ich die „Liebe auf den ersten Blick“ in Worte zu fassen. “A room with a view”, assoziierte meinem Mann. „Für Dich müssten wir die Mauern hier oben etwas höher ziehen“, erklärte er, meine Höhenangst im Blick. Ansonsten sollte sich das Gebäude schnell und leicht bewohnbar machen, schließlich ist es solide, aus Stahlbetonbau, gebaut“, führte er aus.

 

Schon waren wir mitten in der Planung. Ein Abzug für den Ofen war vorhanden, der befand sich wenige Meter von uns entfernt. Während seiner ersten Inspektion hatte mein Mann eine „russische Toilette“ und den Anschluss für ein Waschbecken gesehen. Handyempfang müsste ich haben, erklärte er, denn hinter uns konnten wir einige hohe Antennenmasten sehen. „Unten müssten wir also eine Toilette, ein Waschbecken und einen Ofen einbauen. Wir müssten Fenster einsetzen, die Einschusslöcher schließen, die Wände verputzen, einen Holzfußboden verlegen, ein Bett, einen Tisch und Stühle kaufen. Hier oben, auf der Dachterrasse, können wir wetterfeste Lounge-Möbel aufstellen“, komplettierte er.

 

„Ich denke, wir sollten das Haus lieber überdachen lassen, denn im Winter ist es in der Region eiskalt. In diesem Zeitraum bewegen sich die Temperaturen hier um den Gefrierpunkt und darunter“, setzte ich meinen Mann ins Bild. „Wenn solche baulichen Veränderungen möglich wären, hätte ein Investor die bereits vornehmen lassen“, erwiderte mein Mann. „Dann stünde hier längst ein Luxusressort“, sinnierte er. Okay, dann eben ohne weiteres Dach, dachte ich bei mir.

 

Voller Tatendrang machten wir uns auf den Rückweg, denn die Strom- und Wasserzufuhr war noch zu klären. Strommasten, so berichtete mein Mann, seien ihm auf dem Hinweg aufgefallen. Und tatsächlich: An der Weggabelung, die zum Haus unseres Park-Ratgebers führte, fand sich ein Strommast. „15 KVA (Kilovoltampere) bezeichnen die Leistung, die durch die Leitung fließt“, erklärte mein Mann. ET 49066, so mutmaßte ich, lässt sicher Rückschlüsse auf den Standort zu. Darüber sollte man bei der Stadtverwaltung weiterkommen.

 

Wenn der Hinweg hinunter führt, geht es auf dem Rückweg bergauf. Ein Gesetz, das ich schmerzlich spürte. Doch der Gedanke an “A room with a view” machte es leichter. Schließlich war auch der Aspekt der Wasserversorgung noch zu klären. Kaum hatten wir das Thema, das uns von der Beschwerlichkeit des Weges abzulenken vermochte, angeschnitten, hörten wir das Rauschen eines kleinen Flusses, der unterhalb des Weges entlang floss.

 

Wenn jetzt noch das Auto unbeschadet an Ort und Stelle stünde, wäre dies der perfekte 1. Januar 2013, dachte ich bei mir. „Was meinst Du? Werden wir die Reste der Karosserie vorfinden oder ist es ganz gar verschwunden“, fragte mein Mann auf den letzten Metern, während ich das völlig unbeschädigte Auto bereits in der Sonne blitzen sah.

 

P.S.: “A room with a view” ist keine 14 Kilometer von Zentrum von Capivari (Ortsteil von Campos do Jordão) entfernt. Der Weg zum Pico do Itapeva ist von dort ausgeschildert (über die Av. Senador Roberto Simonsen und die Estrada p/ O Pico do Itapeva). Einige hundert Meter nach dem kleinen See (in Fahrtrichtung auf der linken Seite) und noch vor den Antennenmasten mit Satellitenschüsseln (circa drei Kilometer vor dem Gipfel) geht eine Parkbucht ab. Hier sollte man dem Schotterweg bis zur Weggabelung folgen. Dort angekommen führt der Weg zur Linken zum „Fenster mit Aussicht“.