Panoramafreiheit oder auch Straßenbildfreiheit

Mein Mann lebte keine zwei Monate in der Megacity, als ich ihn zum ersten Mal besuchte, und wir – aus rein touristischem Interesse – die ersten Fotos schossen, um unsere Eindrücke für die Ewigkeit festzuhalten.

Der Komplex rund um das Hilton São Paulo hatte es uns angetan, denn architektonisch ist das Ensemble mit Blick auf die Ponte Estaiada Octávio Frias de Oliveira, eine Schrägseilbrücke über den Rio Pinheiros – das Wahrzeichen der Megacity – sehr beeindruckend. Doch kaum hatte mein Mann seine damals noch klitzekleine Nikon-Digitalkamera in Schussposition gebracht, brauste ein Sicherheitsmann auf seinem Motorrad an und machte unmissverständlich klar, dass Fotografieren dort nicht erlaubt sei.

 

Viele Monate später flanierten wir auf der Avenida Brigadeiro Faria Lima und bewunderten die Auslagen von Tiffany & Co., als mein Mann plötzlich zur Kamera griff, um die wunderschönen Juwelen im Bild festzuhalten, als plötzlich der Sicherheitsmann wie eine Furie auf meinen Mann zuschoss und ihn aufforderte, unverzüglich die Kamera wieder einzupacken, was dieser mit Bedauern, aber ohne Widerspruch tat, denn eine Diskussion über rechtliche Sachverhalten in einer noch vergleichsweise fremden Sprache zu führen, machte nicht viel Sinn.

 

Das dritte Erlebnis dieser Art brachte bei meinem Mann das Fass schließlich zum Überlaufen: Wenige Tage zuvor hatte das JK Iguatemi, ein neues Luxus-Shopping, seine Tore geöffnet. Während mein Mann mit seiner inzwischen etwas größeren, aber dennoch sehr unauffälligen Kamera, die beste Foto-Position ausmachte, näherte sich ein Wachmann, mit bestimmtem Schritt, und erkundigte sich, ob wir eine “autorização” zur Erstellung von Bildmaterial besäßen. Nein, die hätten wir nicht, bedauerte ich, während mein Mann entrüstet erklärte, dass es ja wohl nicht sein könne, dass er hier nicht fotografieren dürfe, denn schließlich befände er sich auf öffentlichem Straßenland.

 

Als sich der Wachmann von der Argumentation meines Mannes unbeeindruckt zeigte, versuchte ich es mit dem „Touristen-Argument“. Wir seien aus Deutschland und fasziniert von der großartigen Architektur, die wir einfach festhalten wollten. In Deutschland sei es überhaupt kein Problem, von der Straße aus Fassaden abzulichten.

 

Während ich mich erklärte, hatte ich aus dem Augenwinkel wahrgenommen, dass sich zwei weitere Wachmänner in unsere Richtung bewegten, ganz offensichtlich, um dem Kollegen Hilfe zu leisten. Als dieser, ohne auf das Gesagte einzugehen, nochmals betonte, dass wir eine “autorização” benötigten, bedeutete ich meinem Mann, dass es wohl besser wäre, die Segel zu streichen.

 

Wie es denn sein könne, dass man in São Paulo auf öffentlichem Straßenland nicht fotografieren könne, erkundigte sich mein Mann am nächsten Tag aufgebracht bei Heloisa, unserer Sprachlehrerin. Im Arbeitszimmer konnte ich Bruchstücke der hitzigen Diskussion verfolgen, auf die sich Heloisa in meiner Unterrichtsstunde erneut bezog. Im Einzelnen sei sie über die Gesetzeslage nicht im Bilde. Doch sie könne sich vorstellen, dass das Fotografieren aus Sicherheitsgründen nicht gestattet sei, denn schließlich könnte die Fotosession dazu dienen, die Sicherheitsanlagen des Gebäudes im Bild festzuhalten. Wir entsprächen rein optisch sicher nicht dem klassischen Großkriminellen, warf ich ein, woraufhin sie zu bedenken gab, dass uns diese Tarnung vermutlich besonders verdächtig machen würde. Sicher sei der ein oder andere Kriminelle schon einmal auf die Idee gekommen, sich als Tourist ausgeben.

 

Wir fotografierten weiter – in unbedenklichen Gegenden – wobei wir auch in reinen Wohnstraßen immer wieder einmal kritische Blicke vom Sicherheitspersonal vor den Privathäusern oder den “guardas da rua”, den Straßenwächtern in ihren winzigen guaritas, den Wachhäuschen, von denen aus sie die Sicherheit der Straße im Visier haben, ernteten. Ob sich Letztere tatsächlich um die Sicherheit der Bewohner sorgten oder ob sie sich – angesichts unserer Motivauswahl vom interessanten Garagentor über den kunstvollen Briefkasten- eher die Frage stellten, ob wir im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte stehen, lässt sich nicht final beantworten.

 

Am vergangenen Wochenende nun schlug mein Mann vor, zur Fotosafari in die Avenida Leonardo da Vinci aufzubrechen. Auf dem Weg zu einem Kunden sei ihm dort ein beeindruckendes „Haus“ aufgefallen, das er gern fotografieren wolle.

 

Das „Haus“ hatte ich mir anders vorgestellt, denn ich hatte ein verlassenes Gebäude, keinen imposanten Glaspalast mit beeindruckenden Skulpturen davor vor Augen. Als alte Berlinerin kam mir sofort der bekannte Sinnspruch in den Kopf: „Nachtigall, ick hör dir trapsen!“, was auf hochdeutsch so viel heißt wie „Ich ahne schlimmes!“.

 

Ich sah den Wachmann schon, bevor er auf der Bühne erschienen war. Sekunden später hatte er sich vor meinem Mann materialisiert, dessen Gesichtsausdruck Bände sprach. Genau so schnell wie er gekommen war, hatte sich der Wachmann wieder entfernt und mein Mann war auf den Bürgersteig zurückgekehrt, wohin ich ihm folgte. „Ich fasse es nicht“, sagte er ungehalten. Ich habe dem Mann erklärt, dass Brasilien ein freies Land ist und ich einfach nicht verstehen kann, dass man hier nirgends fotografieren kann. Es ist immer dasselbe!“, sagte er und bewegte in Richtung des angrenzenden Parks.

 

Ich entschied mich, dass Gespräch mit dem Wachmann zu suchen. Was das denn für ein imposantes Gebäude sei und wo ich ein “autorização” erwirken könne, erkundigte ich mich. Das Gebäude sei der Hauptsitz der Itaú, berichtet der Wachmann geduldig. Hier sei die Bank gegründet worden, nach Plänen des Bankgründers. Die Architektur des Gesamtkomplexes sei um einen einzigen Baum herum entworfen worden. Die Skulpturen stammten von namhaften Künstlern, eine sogar von Oscar Niemeyer, erklärte er nicht ohne Stolz und näherte sich der Balustrade, von der aus man den Park im Blick hatte, um zu sehen, was mein Mann dort treibt.

 

Dafür, dass man eine so bedeutende Bank, immerhin die achtgrößte der Welt, nicht einfach so fotografieren könnte, hätte ich vollstes Verständnis. Ich würde mit der “assessoria de imprensa”, der Pressestelle, Kontakt aufnehmen, um eine Genehmigung zu erwirken und berichtete ihm über das Procedere in Deutschland. „Lassen Sie mich mit meinem Supervisor sprechen. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun“, sagte der sympathische Mann plötzlich und wandte sich per Walkie Talkie an Sr. Rogério, dem er die Lage schilderte. Sr. Rogério muss wohl einen großzügigen Tag gehabt haben, denn „unser“ wirklich freundlicher Wachmann teilte uns, nachdem ich meinen Mann aus der „Gefahrenzone“ geholt hatte, zufrieden mit, dass wir die Gebäude fotografieren könnten. Lediglich die Eingänge der Bank sollten wir bitte nicht aufnehmen.

 

Wir waren sprachlos und machten uns ans Werk, mit tollen Ergebnissen. Nach circa 15 Minuten verabschiedeten wir uns glücklich und dankbar bei dem Ausnahme-Wachmann, der so viel über seinen Arbeitsplatz zu berichten wusste.

 

Um für die Zukunft gerüstet zu sein, hieß es, die Rechtslage zu sondieren. Gilt in Brasilien, wie in Deutschland, die Panoramafreiheit oder auch Straßenbildfreiheit, die es jedermann erlaubt, urheberrechtlich geschützte Werke (z. B. Gebäude oder auch eine bleibende Installation), die von öffentlichen Verkehrswegen aus zu sehen sind, bildlich wiederzugeben, ohne dafür die sonst erforderliche Genehmigung einholen zu müssen, oder eben nicht?

 

Ja, sie gilt. Die “Legislação sobre Direitos Autorais – LEI Nº 9.610, DE 19 DE FEVEREIRO DE 1998”, (Art. 48 und 79) garantiert diese auch in Brasilien. “Eu não preciso de autorização para fotografar meu país” – „Ich benötige keine Genehmigung um mein Land zu fotografieren“, stellt ein Autor, der offensichtlich ähnliche Erfahrungen wie wir gemacht hat, mit Hinweis auf das Gesetz energisch fest.

 

P.S.: Mehr unter folgendem Link:

http://espalhai.tnh1.com.br/2012/02/o-direito-de-fotografar/